Marie Pittroff

Als ich Marie Pittroffs Bilder zum ersten Mal gesehen habe, haben sie mich sofort gefangen genommen, und dieses Gefühl ist seither geblieben. Nein, es ist nicht nur geblieben, sondern es ist sogar noch stärker geworden. Meine folgenden Ausführungen sollen vor allem denjenigen unter Ihnen gelten, die Maries Bilder vielleicht zum ersten Male sehen, und Sie können sich dann fragen, ob es Ihnen genauso geht wie mir.

Man kann nämlich, wenn man zum ersten Mal vor diesen Gemälden steht – der etwas altertümliche Begriff trifft hier ja im besten Sinne zu, kann man auf ganz verschiedene Weise darauf reagieren. Man kann sich zum Beispiel damit zufrieden geben, daß man da ganz realistische, ja fast fotografische Porträts und Stadtlandschaften sieht, daß also eigentlich gar nichts hinter durchaus gewohnten Anblicken und Motiven steht: New York, die Metropole, und Lou Reed, den Rockstar, kennt man mehr oder weniger aus den Massenmedien oder hat doch eine ungefähre Vorstellung davon im Kopf.

Aber: Wenn man dann vielleicht etwas genauer hinsieht, dann, so ist es jedenfalls mir gegangen, passiert etwas. Denn die scheinbar bekannte, realistische Darstellung von Oberfläche, von Häuserfassaden und eines prominenten Künstlers, beginnt doch ziemlich schnell diffus zu werden, die Oberfläche beginnt sich aufzulösen und „anders“ zu werden. Da beginnt etwas wirksam zu werden, was ich das Geheimnis der Bilder Marie Pittroffs nennen möchte.

Ein Geheimnis also. „Vielleicht etwas übertrieben“, werden Sie sagen. „Worin soll denn das bestehen, das Geheimnis?“, werden sie mich dann möglicherweise fragen. Und dann kann ich Ihnen vielleicht eine Antwort geben: Diese Bilder haben etwas, das dem Betrachter ins Auge springt, das einfach auffallen muß, wenn man genauer hinsieht: Sie provozieren sofort eine ganz seltsame Distanz. Die Porträts sind nicht farbig, sondern wirken wie schwarz-weiß-Fotos, wie eine Reportage, sie haben also eine Distanziertheit uns gegenüber, die den Porträtierten Künstler von uns entfernt, die keine wirkliche Nähe zu ihm aufkommen läßt.

Die Stadtlandschaften sind genauso distanziert, aber auf eine ganz andere Weise: Sie sind – entvölkert. Kein menschliches Wesen ist zu sehen. Das ist doch aber das eigentlich Überraschende. Wer New York kennt oder auch nur eine Vorstellung davon hat, der denkt sofort an eines: Menschenmassen, Autos, Taxis, der Lärm der Metropole. Nichts davon in Marie Pittroffs Bildern. Im Gegenteil: Da ist Stille, ja, fast könnte man sagen: Grabesruhe. Ist das wirklich New York? Ja und nein, würde ich sagen. Es sind ganz klar die bekannten Gebäude, das Empire State Building, das Art-Deco-Hochhaus der Chrysler Company. Aber auch die Wohnsilos der 42. Straße. Riesige Türme, aber: menschenleer. Wo sind die Menschen, wo ist das Leben? Ist das unser New York? Nein, würde ich sagen, es ist Marie Pittroffs New York. Es ist ihre Wahrnehmung, die uns hier entgegentritt, es ist ihre Geschichte, die sie uns mit ihren Bildern erzählen will. Es hat also etwas Besonderes auf sich mit diesen Bildern.

An diesem Punkt möchte ich eine kleine Episode erzählen: Als Anfang des Jahres die Einzelausstellung Marie Pittroffs in Berlin eröffnet wurde, lag, wie das so üblich ist, ein Gästebuch aus, in das die Besucher der Vernissage ihren Namen und kleine Kommentare geschrieben haben. Einer dieser Gäste hat eine bemerkenswerte Frage an die Malerin notiert: „Meinen Sie wirklich, daß man in New York so einsam sein kann?“ Vielleicht unbewußt hat er damit den Kern berührt, das, worum es bei den Bildern Marie Pittroffs geht, wenn man einen zweiten Blick auf sie wirft.

Es ist das Gefühl der Einsamkeit und der Melancholie der Großstadt, das uns hier begegnet. Das Gefühl, daß man kann mitten unter Tausenden von Menschen sein kann und doch ganz allein. Marie Pittroffs Bilder sind, bei allem Realismus, also keine bloßen Abbildungen von Realität, sondern sie zeigen uns viel mehr als das: Sie zeigen uns in einer sehr unmittelbaren Weise, daß es hier um die ganz persönliche Wahrnehmung der Malerin geht, um eine Wahrnehmung, die in den Bildern ihren Ausdruck findet.

Aber – es ist noch viel mehr zu entdecken, wenn man sich ein wenig länger in diese Bilder vertieft. Und dann kommen wir dem Geheimnis vielleicht schon etwas näher. Da ist ein ganz delikates Spiel von Licht und Schatten, von Farben und Formen. Da sind vor allem aber Flächen, die auftauchen und irgendwo wieder verschwinden, Flächen, von denen man gar nicht so recht weiß, was da nun eigentlich ist. Diffusitäten. Aber in diesen diffusen Flächen, da passiert etwas, da findet eine Bewegung statt, und diese Bewegung, die ist die innere Bewegung der Malerin Marie Pittroff.

Wir müssen uns an dieser Stelle vergegenwärtigen, was es heißt, diese Bilder zu malen. Da ist nicht allein das Motiv, das eine gewisse Faszination ausstrahlt, ausstrahlen muß, um überhaupt auf Leinwand gebannt werden zu können. Da ist noch sehr viel mehr, zumal bei der Technik, die Marie Pittroff benutzt: Es ist die Lasurmalerei, die Schichtenmalerei, die aufwendigste Form der Malerei überhaupt. Ein Bild ist Tage um Tage, wochenlang, manchmal ein oder zwei Monate lang in Arbeit. Und in diesen Tagen und Wochen kristallisiert sich etwas heraus, nämlich diese innere Bewegung, die die Malerin gegenüber ihrem Motiv hat.

Marie Pittroffs Bilder sind also viel mehr als einfach nur Abbildungen von Realität. Sie sind ein Angebot der Malerin, innezuhalten. Sich darüber klar zu werden, daß die Oberfläche, die Fassade, die wir wahrnehmen, immer auch etwas mit uns, mit unserem Inneren zu tun hat. Daß sie etwas in uns wecken kann, was uns ganz persönlich berührt.

Auf die Diffusitäten, von denen ich gesprochen habe, auf die Ungewißheiten, auf das aus dem Rahmen des Gewohnten oder dessen, was wir dafür halten Fallende möchte ich Ihre Aufmerksamkeit beim Anschauen der Bilder lenken. Denn, und da bin ich mir sicher, genau darin besteht das Angebot der Malerin Marie Pittroff an den Betrachter. Es ist das Angebot, sich eine ganz bestimmte Frage zu stellen: „Wo bin denn eigentlich ich, der ich diese Bilder gerade betrachte?“ „Kann ich mich in diesen Bildern wiederfinden?“ Oder, ganz allgemein: „Sprechen diese Bilder etwas in mir an, bringen sie eine Saite zum klingen, die ich vorher so vielleicht gar nicht an mir wahrgenommen habe, die mir so gar nicht bewußt war?“
Denn, eines scheint mir klar zu sein: Diese Bilder sind, im besten Sinne des Wortes, Meditiationen über ein Thema. Sie sind das Ergebnis einer wochenlangen Auseinandersetzung mit dem Thema, das von allen Seiten beleuchtet wird, ausgeleuchtet. Also Wochen der Meditation, der Vertiefung bis in das letzte Detail, so lange, bis ein Zustand erreicht ist, der das Bild dann vollendet sein läßt.

Und diese Vollendung besteht meiner Auffassung nach darin, daß das fertige Bild, wie wir es hier vor uns haben, genau das ermöglicht, was uns Marie Pittroff als ihre eigene Geschichte, als ihre persönliche Erfahrung mitteilen will: Daß nämlich die Welt hinter ihrer Fassade, hinter der Oberfläche, nicht nur existiert, sondern daß wir uns nur auf sie einlassen müssen, um sie wahrzunehmen und uns in ihr wiederzufinden

Vielleicht beantwortet dies die Frage des Berliner Ausstellungsbesuchers, ob man in New York so einsam sein kann. Denn es geht gar nicht so sehr um New York und seine imposanten Hochhäuser, es geht viel mehr darum, ob und wo und wie wir uns in ihrem Anblick wiederfinden oder ob wir durch ihn inspiriert sind, zu uns selbst zu finden. Die Frage nach der Einsamkeit war also vielleicht viel mehr die Frage, die der Besucher an sich selbst richten muß als an Marie Pittroff, weil ihre Bilder etwas in ihm ausgelöst haben, was ein anderer Besucher möglicherweise überhaupt nicht wahrgenommen hat.

Was also Marie Pittroff mit ihren Bildern anbietet, ist etwas, das über eine begrenzte Wahrnehmung hinausgeht, das mehr ist als das bloße Hinschauen. Es ist das Angebot, sich auf sich selbst einzulassen. Und daß ihr dies gelingt, nicht nur bei mir persönlich, sondern auch bei vielen anderen Menschen und bei jedem auf ganz unterschiedliche Weise und mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen, darin besteht, meine ich, die Kunst Marie Pittroffs.Was wir als Betrachter brauchen, ist lediglich zweierlei: Nämlich zum einen, daß wir uns Zeit für die Bilder und damit für uns selbst nehmen, genauso, wie Marie Pittroff sich Zeit nimmt, sie für sich selbst und für uns zu malen. Und zum anderen, daß wir außer der Zeit auch noch die Bereitschaft mitbringen, etwas in und um uns herum wahrzunehmen, das etwas Neues sein kann, etwas Aufregendes vielleicht, etwas, das uns spüren läßt, das es etwas gibt im Leben, das das Leben lohnenswert macht, nämlich: die Kunst. Und das ist, meine ich, nicht zuletzt auch die Kunst Marie Pittroffs.

Dr. Hermann Stauffer (Universität Osnabrück), 2002
Rede anläßlich der Ausstellungseröffnung in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, Mainz